In einer beschleunigten Welt, die immer komplexer wird und unüberschaubare Wahl- und Entscheidungsfreiheiten bietet, suchen Menschen verstärkt nach dem einfachen Leben. Neue Wirtschaftsmodelle, die auf nachhaltiges Wachstum setzen, sind damit ebenso verbunden wie gesundheitsorientierte Lebensstile. Nur was wir sind, zählt wirklich, sagte schon der Philosoph Arthur Schopenhauer. Das größte Ziel sollte Gesundheit und intellektueller Reichtum sein. Damit verbunden war für ihn ein unerschöpflicher Vorrat an Ideen, der zu innerer Unabhängigkeit und zu einem „moralischen“ Leben führt.
Auch Peter Sloterdijk fordert in seinem Buch „Du musst Dein Leben ändern“ eine Vereinfachung unseres individuellen Lebens. Askese meint hier nicht Verzicht, sondern üben (altgriech. „askein“) und Bewusstheit für die wichtigen Dinge des Lebens zu entwickeln.
Wer über sein Handeln selbstbestimmt entscheiden kann, empfindet weniger Stress und ist nachweislich gesünder. Arbeit und Leben gehen dabei immer mehr ineinander über. Beides soll Sinn machen, aber das ist nur möglich, wenn es nicht getrennt stattfindet – so wie es Heinrich Böll (1917–1985) in seiner Geschichte vom klugen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer 1963 in seiner „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ erzählte:
In einer Hafenstadt liegt ein Fischer in seinem Boot und schläft. Ein geschäftiger Tourist steht plötzlich vor ihm an der Hafenkante und fotografiert die idyllische Szene: „Sie werden heute einen guten Fang machen“, sagt er und weckt den Fischer auf und spricht über scheinbar unbegrenzte, wirtschaftliche Wachstumsmöglichkeiten, die der Fischer hätte, wenn er heute noch ein weiteres Mal ausfahren würde. Schließlich kann er damit seinen Fang verdoppeln oder sogar verdreifachen, argumentiert der Unternehmer, der keine Ruhe kennt und immer aktiv sein muss.
Der Fischer nickt, versteht allerdings nicht den Sinn dahinter. Darauf der Unternehmer: „Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden sie natürlich viel mehr fangen.“ Der Fischer könne ein Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber fliegen, die Fischschwärme ausmachen „und ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben“.
Den Fischer lässt das alles unbeeindruckt – und er fragt: „Was dann?“ – „Dann“, sagt der Urlauber begeistert, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“ – „Aber genau das tue er doch längst, antwortet der Fischer völlig unbeeindruckt und fügt hinzu: „nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“ Er ist die Ruhe selbst und entnimmt der Natur nur das, was er zum Leben benötigt und was auch wieder neu entsteht. Nach getaner Arbeit legt er sich zufrieden in sein kleines Boot und döst er in der Sonne.
Das erinnert auch an den antiken Philosophen Diogenes, von dem berichtet wird, dass er in einer Tonne lebte: An einem sonnigen Tag kam Alexander der Große vorbei und fragte, welchen Wunsch er ihm erfüllen könne. „Geh mir aus der Sonne!“, sagte der Philosoph, der für sein Glück keine Reichtümer, sondern nur das Licht des Augenblicks brauchte. Nichts zu tun und nur zu „sein“ hatte für ihn nicht mit Zeitverschwendung zu tun, sondern mit Lebensgewinn.
Diese Einstellung ist vielen Menschen heute fremd – sie müssen immer etwas tun. Sonst scheint ihnen die Zeit ungenutzt und vergeudet. Doch die Beispiele zeigen: Das Glück gehört allen, die sich selbst genügen (Arthur Schopenhauer). Der wahre Lebensgenuss liegt für sie nicht in der Ferne, sondern in der Nähe, nicht im Abschalten und Herunterfahren, sondern im Loslassen.
Das, was viele Menschen davon abhält, es zu erkennen, ist häufig die Jagd nach Anerkennung, mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Erfolg. Dabei wachsen auch Angst, Aggressivität, Ungleichheit, Unlust an der Politik, Schulden und die Umweltbelastungen. All das hat seinen Preis.
Unendliches Wachstum in einer begrenzten Welt kann es auch mit den besten Technologien nicht geben. Mit Blick auf die kommenden Jahre hängt alles davon ab, ob uns eine Entkoppelung von Wachstum und Naturverbrauch gelingt. Nicht ob, sondern wie die Wirtschaft wächst, ist die entscheidende Frage einer Green Economy 2.0, die Gerechtigkeitsfragen, nachhaltiges Wirtschaften und inneres menschliches Wachstum miteinander verbindet.
Die Sehnsucht nach mehr Gemeinsinn, nach Halt, nach Heimat, nach einem maßvollen Leben, einer Gesellschaft im Gleichgewicht, nach Natur, nach Sinn, nach Solidarität und nach Verantwortung ist mit einem Universum von Möglichkeiten verbunden.
ist freie Publizistin, Autorin und Nachhaltigkeitsexpertin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik und Kommunikation bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim den Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs „CSR-Manager (IHK)“. Sie leitet die AG „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Nachhaltig Erfolgreich Führen“ (IHK Management Training). Im Verlag Springer Gabler gab sie in der Management-Reihe Corporate Social Responsibility die Bände „CSR und Sportmanagement“ (2014, 2. Auflage 2019), „CSR und Energiewirtschaft“ (2015, 2. Aufl. 2019) und „CSR und Digitalisierung“ (2017, 2. Aufl. 2020) heraus. Aktuelle Bücher bei SpringerGabler (mit Werner Neumüller): „Visionäre von heute – Gestalter von morgen“ (2018) und „Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen“ (2020).
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Heinrich Böll/Émilie Bravo: Der kluge Fischer. Bilderbuch. Carl Hanser Verlag. München 2014.