Wurzeln der Nachhaltigkeit
Der häufig inflationär verwendete Nachhaltigkeitsbegriff ist heute zwar allgegenwärtig, aber keineswegs verbraucht. Vielmehr sollte er von manipulativen und werblichen Bedeutungszuweisungen gereinigt und auf seine Essenz zurückgeführt werden.
Allgemeinsprachlich drückt der Begriff etwas aus, das nachdrücklich, intensiv, dauerhaft ist. Politisch verweist es auf ein ökologisch verantwortliches und sozial gerechtes Verhalten. Seiner Herkunft nach finden sich zu dem Wortstamm „halten“ zwei unterschiedliche Gruppen von Tätigkeiten. Das althochdeutsche „haltan“, das gotische „haldan“ oder das entlische „to hold“ gehen auf die indogermanische Wurzel „kel“ zurück, womit ursprünglich Rufen, Lärmen, Schreiben und Treiben in Kontexten von Tierhaltung benannt wurden. „Bewahren“ taucht erst unter der althochdeutschen Präfixbildung „bihaltan“ auf, das im Sinne von „Hindern“ oder „Aufhalten“ eher statische Aspekte von Viehzucht erfasst.
„Bewahren“ selbst ist als zweiter Strang der Verschmelzung eine der Ableitungen aus der indogermanischen Wurzel „uer“ (mit einem Zaun, Schutzwall umgeben, verschließen, bedecken, schützen), wozu auch das althochdeutsche „weri“ (Schutzwall) und das altenglische „warian“ (modern: Krieger) zählen. Die aus dieser Wurzel gebildeten Wörter bezeichnen Sinnzusammenhänge im Kontext verteidigender Tätigkeiten wie „behüten“, „schützen“, „aufbewahren“, „beibehalten“, „erhalten“ von Dingen und Gegebenheiten, die bereits existieren.
Im Englischen heißt Nachhaltigkeit („sustainability“) so viel wie „im Dasein halten“, „bewirken, dass etwas in einem bestimmten Zustand fortdauert“, „auf dem angemessenen Stand halten“. Die Endung „able“ verweist dabei auf ein Können und eine Befähigung. „Sustainable“ steht für „aufrechterhalten“, „auf Dauer bewahrbar“, „tragfähig“. Im Lateinischen verweisen die Verben „sustinere“ und „sustenare“ auf die Grundsörter „sub“ (unter) und „tenere“ (halten, tragen), die so viel bedeuten wie aushalten, aufrechterhalten, tragen, stützen, bewahren, etwas zurückhalten.
Das, was uns nachhaltig trägt, sind Natur, Kosmos und der Glaube an etwas, das über uns hinausweist. Der Begriff Nachhaltigkeit hilft uns aber auch, gegen Zusammenbrüche aller Art gefeit zu sein, „auch wenn wir mutlos und abstiegstrunken unterwegs sind“ (Ulrich Grober). „Nachhalt“ ist das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält.“ Der tröstliche Satz von Joachim Heinrich Campe, erschienen im 1807 herausgegebenen Wörterbuch der deutschen Sprache, hat etwas zeitlos Gültiges und zeigt die Essenz und Sinnlichkeit des Wortes. Seinen Ursprung hat es in der Forstwirtschaft, die sich noch heute dem Vermächtnis des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) aus Freiburg in Sachsen verpflichtet fühlt, der sich bereits vor über 300 Jahren um den Holznachschub sorgte: Im Alter von 32 Jahren wurde er 1677 Oberberghauptmann und beaufsichtigte in dieser Funktion den Raubbau an der Natur durch heimische Erzbergwerke und Schmelzhütten. Das, was er sah, machte ihn zunehmend wütend, denn die holzbefeuerte Silberbergwerksproduktion vernichtete damals schonungslos die Wälder ringsum (Holz galt als „Erdöl“ der damaligen Zeit, was damals sehr teuer war). Ein Hochofen verschlang im Jahr rund 20 Hektar Wald.
Von Carlowitz kannte die Folgen des Raubbaus an den Wäldern bereits durch Reisen nach Italien, Spanien und Frankreich. Er forderte ein Ende. In seinem Buch „Syvicultura Oeconomica“ (1713), dem ersten geschlossenen deutschen Werk zur Forstwirtschaft, das zum kulturellen Erbe der Deutschen gehört, verlangte er von allen, die Holz verbrauchten, sich angemessenen an einer Wiederaufforstung und am Wiedererlangen eines Gleichgewichts zwischen Abholzung und Zuwachs zu beteiligen. “Es dürfen nicht mehr Bäume gefällt werden, als neue nachwachsen.” Dieser Satz von ihm gilt seither als Grundstein der modernen Forstwissenschaft und stellte einen Perspektivwechsel dar: weg vom kurzfristigen Profitdenken hin zur Beachtung der Interessen zukünftiger Generationen.
Was für Carlowitz damals pflügen, säen und pflegen war, ist in der Gegenwart Emissionsminderung, Ressourcensparen und nachhaltiges Wachstum. Der Wald hat heute neben der Holzproduktion seine größte Bedeutung im Klimaschutz, nämlich die (über)lebensnotwendige CO2-Sequestrierung. In absehbarer Zukunft muss viel weniger Holz geschlagen werden, denn für den Klimaschutz ist es zwingend, die Biomasse im Wald mindestens bis ins Jahr 2150 so hoch wie möglich anwachsen zu lassen. Viele große private Waldbesitzer in Deutschland haben (häufig im Gegensatz zu den Staatsforsten) seit langem einen hohen Holzvorrat im Wald angestrebt. Nachhaltigkeit ist also nichts Gestriges, sondern etwas Aktuelles und Dringliches. Das vermittelt auch die Sächsische Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft, deren Vorstandsvorsitzender Dieter Füsslein selbst lernte, „das neu wertzuschätzen, was nachhält“.
Für Carlowitz hatte Nachhaltigkeit mit einer Kultur des Machens, des Neumachens und Andersmachens zu tun, in der Nachhaltigkeit nicht als Projekt, sondern als lebendiger Prozess betrachtet wird. Diese Form der Vermittlung ist handlungsorientiert und ermöglicht, Visionen in Ziele und anschließend in konkrete Ergebnisse zu verwandeln. Eine aufgeklärte Kultur des Machens bringt Lösungen für die Probleme der Menschheit hervor. Damit verbunden ist aber auch eine Kultur des Lassens, des Wachsenlassens, des Schonens, des Sicheinlassens auf die Zyklen und Rhythmen der Natur. Wenn wir heute von der Bedeutung des digitalen Denkens sprechen, sollte das auch das regenerative Denken eines Försters einschließen.
Kluge Haushalterschaft
Für eine kluge Haushalterschaft werben auch schon viele Texte in der Bibel. Das, was den Menschen von Gott an materiellen Ressourcen anvertraut ist, soll zur Sicherung und Pflege („pfleglich“ ist der unmittelbare Vorläufer von „nachhaltig“) des eigenen Lebens und zum Nutzen aller in nachhaltiger Weise eingesetzt werden. Dem Theologen Johann Gottfried Herder war der biblische Begriff von „Haushalt“, nämlich „oikos“, Haus Gottes (auch im lateinischen „oeconomia“ steckt das griechische „oikos“, Haus, Haushalt) bewusst. Nachhaltigkeit beruht auf dem Vertrauen in das „Vermögen der Erde“ zur „Organisation und Erhaltung der Geschöpfe“ – und zwar „in Permanenz“.
Der Schweizer Forstexperte Andreas Speich arbeitete viele Jahre in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Afrika und Asien und war von 1985 bis 1994 als Stadtforstdirektor von Zürich tätig, verweist darauf, dass Permanenzfähigkeit auch durchaus erlauben kann, eine Ressource während einer verträglichen Zeitdauer überdurchschnittlich zu beanspruchen, wenn dadurch die Entwicklung einer neuen, weit besseren Ressourcenstrategie ermöglicht werden kann. Im erweiterten Sinne eines Zustands des globalen Gleichgewichts tauchte der englische Begriff “sustainability” in der Diskussion um endliche Ressourcen in den 1970-er Jahren auf. Der Begriff „sustainable development“ wurde 1987 erstmals in Dokumenten der sogenannten Brundtland-Kommission für UN-Berichte erwähnt.
Mit der UN-Konferenz „Umwelt und Entwicklung“ im brasilianischen Rio de Janeiro 1992 wurde Nachhaltigkeit endgültig zum Leitgedanken für die globale Umweltbewegung. Hier wurde ein gemeinsames Entwicklungsleitbild Sustainable Development (Nachhaltige Entwicklung) formuliert, um der Erkenntnis gerecht zu werden, dass eine langfristige und dauerhafte Verbesserung der Lebensverhältnisse für eine rasant wachsende Weltbevölkerung nur möglich ist, wenn sie die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen mit einschließt. Der forstwirtschaftliche Begriff des Carl von Carlowitz war damit zum Synonym für eine gerechte Welt im Einklang mit den natürlichen Ressourcen geworden.
Da Wille und Wirklichkeit häufig weit auseinanderklaffen und wir auf alles gefasst sein müssen, da die äußere Stabilität nie von Dauer ist, braucht es einen starken und verlässlichen inneren Kern, der uns nachhaltig durchs Leben trägt, denn: „Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, wie es morgen weitergeht und wie sich sein Leben entwickeln wird. Die Erbauer visionärer Unternehmen wußten sehr genau, dass es besser ist zu wissen, wer man ist, als wohin man geht – denn letzteres würde sich fast sicher ändern. Diese Lektion gilt für unser Leben genauso wie für ein […] Unternehmen.“ (Jim Collins)
ist freie Publizistin, Autorin und Nachhaltigkeitsexpertin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik und Kommunikation bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim den Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs „CSR-Manager (IHK)“. Sie leitet die AG „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Nachhaltig Erfolgreich Führen“ (IHK Management Training). Im Verlag Springer Gabler gab sie in der Management-Reihe Corporate Social Responsibility die Bände „CSR und Sportmanagement“ (2014, 2. Auflage 2019), „CSR und Energiewirtschaft“ (2015, 2. Aufl. 2019) und „CSR und Digitalisierung“ (2017, 2. Aufl. 2020) heraus. Aktuelle Bücher bei SpringerGabler (mit Werner Neumüller): „Visionäre von heute – Gestalter von morgen“ (2018) und „Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen“ (2020).
Weiterführende Literatur:
Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Verlag Antje Kunstmann, München 2010.
Ulrich Grober: Der leise Atem der Zukunft. Vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise. Oekom Verlag München 2016.
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2020.